Eine verwundete Generation gibt ihr Scheitern, ihre Verletzungen, die selbst erfahrenen Verwundung und daraus folgenden Verhaltensmuster an die nächste Generation weiter. Die Väter, die in den zwanziger Jahren des 20.Jahrhunderts geboren wurden, haben die physischen Trümmer des Zweiten Weltkriegs aufgeräumt, die folgende Generation begann, sich der seelischen Trümmer anzunehmen. Die Erfahrung zeigt, dass erst die dritte Generation nach einem Krieg das Vaterloch schließt, das ein Krieg in Männerherzen gerissen hat.
Mein Vater war siebzehn, als der Zweite Weltkrieg ausbrach. Sein Vater war überzeugter Nazi, in einem „Luftsportverein“ hatte er mit fünfzehn das Segelfliegen begonnen, später meldete er sich freiwillig zur Luftwaffe. Als er 1943 als Fluglehrer andere Luftwaffenpiloten ausbilden sollte, statt selbst zur Front zu „dürfen“, war er wütend darüber. Schließlich wurde er als Jagdflieger, zusammen mit lettischen Piloten, in Kurland eingesetzt.
Dass mein Vater zeit seines Lebens gezwungen war, sich mit seinen Erfahrungen im Zweiten Weltkrieg auseinanderzusetzen, wußte ich. Immer mal wieder erzählte meine Mutter, dass mein Vater in der Nacht buchstäblich aus dem Bett gefallen war, weil er von einem Luftkampf geträumt hatte.
Er besaß unzählige Bücher, in denen es um den Zweiten Weltkrieg, die Wehrmacht und die Frage der Kriegsschuld ging. Als Pubertierender hielt ich ihn deswegen für einen Nazi. und wir hatten manche Streitgespräche. Zugleich nahm ich irritiert wahr, wie zwiespältig meine eigenen Gefühle gegenüber der NS-Geschichte war. Als Gymnasiast mit Leistungskurs Geschichte war mir jede Relativierung des Faschismus zuwider. Wenn ich aber im Fernsehen Bilder dieser Zeit sah, fühlte ich mich tief in mir auf eigenartige Weise zugleich hingezogen zu dieser Zeit und dieser „Männerkultur“.
Heute glaube ich, dass da vor allem zweierlei wirkte: etwas in mir wollte endlich meinem Vater nahekommen, indem es sich mit dieser seiner Welt identifizierte. Zugleich hatte ich etwas von der Verschlossenheit, dem „Ich darf und werde mich niemals schwach zeigen“ meines Vaters übernommen. Und Menschen mit diesem Schwur werden angezogen von allem, was sich herrisch, unbeugsam und gefühllos verhält.
Im Lauf der Jahre erzählte mein Vater manchmal spontan aus der Zeit an der Front. Jedes Mal gab es dann für mich einen kleinen Riß in dem sorgsam gehüteten Panzer um sein traumatisiertes Herz.
Eine Erzählung ging so: „Wir waren auf einem Feldflugplatz in Russland, warteten auf unseren Einsatz und ich spielte Schach mit einem Kameraden. Dann kam die Sirene. Die Schachfiguren ließen wir stehen und sprangen in die Flugzeuge. Als ich zurückkam, wurden die Schachfiguren abgeräumt – mein Mitspieler war nicht mehr am Leben.“
Einmal erzählte er wie aus dem Nichts: „Grausam waren die Tieffliegerangriffe. Und am meisten schmerzte mich das Schicksal der Transportpferde, die mit getroffen wurden. Die waren doch völlig unschuldig an allem…“
Ich erinnere mich heute noch an den aufwühlenden Mix an Gefühlen in mir, als ich das hörte: an mein Mitgefühl, an die Trauer, an einen eisigen Schauer, an eine Leere in meinem Kopf – konfrontiert mit dem Unbegreiflichen des Krieges.
Ich begann, nach Gelegenheiten zu suchen, meinen Vater zu verstehen und sein Schicksal an mich heranzulassen. So nahm ich seine Einladung an, ihn zu einem Treffen des „Vereins ehemaliger Jagdflieger“ auf einem Luftwaffenstützpunkt der Bundeswehr zu begleiten.
Dort spürte ich etwas von der „Kameradschaft“ unter diesen Männern – eines der vielen Wörter, die so durch die Nazizeit belastet sind, dass man sie ohne Kommentierung kaum noch aussprechen kann. Aber ich konnte meine eigene Sehnsucht spüren, mich mit Männern auf eine so existentielle Weise verbunden zu fühlen wie ich es zwischen diesen Männern wahrnahm – so tragisch die Umstände dieser Verbundenheit auch waren!
Einige dieser Männer traf ich später noch einmal wieder, bei der Feier zum 80.Geburtstag meines Vaters.
Ich wußte, dass ich an diesem Tag eine Rede halten wollte und dass viel von dieser Rede abhing. Deshalb nahm ich mir einen ganzen Tag Zeit und versuchte unter anderem in einer schamanischen Baumzeremonie herauszufinden:
Was ist es, was ich meinem Vater als seinem Sohn von Herzen zu sagen habe? In dieser Rede ging es dann vor allem um zweierlei: um meinen Dank für das, was mein Vater für mich nach seinem besten Wissen getan hatte. Und um den Versuch, ihm zu signalisieren, dass ich ihn nicht mehr wie als Fünfzehnjähriger verachte und anklage, sondern ahne, wie all diese Rechtfertigungen, Kameradschaftsgeschichten und provozierenden Ansichten der Versuch sind, etwas Unbegreifliches zu begreifen, etwas Unerträgliches zu fühlen und irgendwie das eigene Herz zu schützen und wiederzufinden. Dieses Signal kam an und ich spürte die Verbundenheit, die dadurch entstand.
Es war mehr als ein Mann im Alter meines Vaters, der nach dieser Rede zu mir kam mit den Worten: „Ich wünschte, mein Sohn hätte auch einmal so zu mir gesprochen.“
Steve Biddulph schreibt dazu in „Männer auf der Suche“:
„Jeder Vater wartet, egal wie kritisch oder gleichgültig er nach außen hin auch erscheinen mag, wartet sein Leben lang insgeheim darauf, zu erfahren, ob sein Sohn ihn liebt und achtet. Das ist die große Macht, die jeder Sohn durch sein bloßes Sohn-Sein in den Händen hält.“
Meine Eltern hatten sich getrennt, als ich zwölf war – ausgerechnet in der Zeit, in der ich meinen Vater am dringendsten gebraucht hätte. Die Ehe scheiterte gewiß auch an den Folgen des Krieges: am verschlossenen Herzen eines traumatisierten jungen Mannes, der Unvorstellbares erlebt hatte. (Natürlich hatte auch die Seele meiner Mutter, die aufgrund des Krieges nicht hatte studieren können und 1944 vor dem ausgebombten Elternhaus stehen mußte, tief gelitten.)
Wenn er angesprochen wurde auf seine Unzuverlässigkeit, pflegte er zu sagen: „Ich lebe so, wie ich es im Krieg gelernt habe: Ich lebe immer im Jetzt; was weiß ich , ob ich morgen noch am Leben bin!“
Robert Bly schrieb in „Eisenhans“
„Männer können nur von Männern initiiert werden. Frauen können aus einem Embryo einen Jungen werden lassen, aber nur Männer können aus einem Jungen einen Mann machen.“
Mein Vater war bereit dazu, aber er wußte nicht wie. Meine Mutter suchte im Sohn den Halt, den sie beim Ehemann nicht fand. Und mein Vater resignierte in diesem subtilen Machtkampf, mich „in seine Welt“ mitzunehmen.
So wurde auch mein Mann-Sein geprägt von einem eigenartigen Gefühl der Bodenlosigkeit und mangelnden Verwurzelung. Sicher hat sie auch meine spirituelle Suche geprägt, meinen Weg in der Sexualität, meine immer wieder wechselnden Beziehungen zu Frauen und meine Suche nach einem Leben in Gemeinschaft.
Die Einsicht in meinen ganz persönlichen „Vater-Hunger“ und die Entscheidung, dafür Verantwortung zu übernehmen, stand am Beginn meines eigenen Weges als Mann und hatte sicher viel damit zu tun, die Arbeit mit Männern zu meinem Beruf zu machen.
Viele Jahre nach der Begegnung mit dem Eifler Bauern brachte ich meinen Vater zum Flughafen nach Düsseldorf. Über den „Verein ehemaliger Jagdflieger“ hatte er nach fünfzig Jahren zu dem lettischen Piloten Kontakt bekommen, mit dem er 1944 in Kurland Einsätze geflogen war.
Er hatte seinen Besuch, sein Wiedersehen über ein Jahr lang vorbereitet. Und als ich ihn auf dem Weg zum Incheck fragte, was er denn nun vorhatte dort in Lettland, sah ich meinen Vater das erste Mal in meinem Leben weinen. Er konnte nicht mehr aufhören, er war einfach überwältigt von dieser Erfahrung: am Ende seines Lebens, fünfzig Jahre nach dem Krieg, kehrte er dorthin zurück, wo er als junger Mann für den Rest seines Lebens geprägt worden war. In diesem Moment begriff ich endgültig, wie sehr das Leben meines Vaters vom Krieg gezeichnet war. Und es reute mich zutiefst, dass ich verpaßt hatte, ihn auf dieser Reise zu begleiten.
Seit dieser Zeit sah ich meinen Vater öfters weinen. Es konnten einfach Szenen in einem Fernsehfilm sein. Oder das Gespräch kam aufs Fliegen und er erinnerte sich an das Gefühl der Freiheit dort oben im Himmel. Jede dieser Erfahrungen brachte mich meinem Vater ein Stück näher.
Ganz am Ende seines Lebens offenbarte er mir dann etwas, womit ich niemals gerechnet hatte. Er, der längst nicht mehr Mitglied einer Kirche war und den ich niemals mit Religion oder Spiritualität in Verbindung gebracht hatte, vertraute mir an, dass er seit den Kriegsjahren jeden Abend bete. Er dankte jeden Abend dafür, dass er den Krieg überlebt hatte.
Literaturempfehlung:
Christina Alberti, „Seelische Trümmer – Geboren in den 50er und 60er Jahren: Die Nachkriegsgeneration im Schatten des Kriegstraumas“, Kösel-Verlag, 2010.
Sabine Bode, „Kriegsenkel: Die Erben der vergessenen Generation“, Klett-Cotta 2012.
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Zweiter Weltkrieg und die seelischen Trümmer zwischen Vater und Sohn
Hallo Thomas,
eine packende und rührende Lebensgeschichte!
Ganz kurz: mein Vater war mit 17 in Stalingrad, danach in russischer Kriegsgefangenschaft. Daraus kam er als seelischer Krüppel zurück. Das sind keine Einzelschicksale und man kann die Bedeutung der Erlebnisse dieser Generation für unsere heutige Gesellschaft gar nicht hoch genug einstufen.
Leider ist er mit 65 an Tabletten, Nikotin und Alkohol eingegangen und ich war damals 18, kann also nichts mehr mit ihm direkt klären.
Ich träume manchmal Szenen aus dem Krieg, die ich selbst nicht erlebt habe, aber das Gefühl der ständigen Todesangst und der Verfolgtheit ist so absolut echt – meinst Du, es gibt eine Übertragung des seelischen Unbewussten, also der Kriegserlebnisse, auf die nächsten Generationen, sozusagen als gefühlsmässigen Negativabdruck?
Viele herzliche Grüße,
Alex