Prof. Gerald Hüther hat als Forscher in der Psychiatrie gearbeitet bis er raus ging, um Bücher zu schreiben und populärwissenschaftlich zu erklären, was im Gehirn passiert und warum so viele Menschen in der Psychiatrie sind. Das Credo des aktuellen Spiegel-Bestsellerautors von „Würde“: Wir müssen uns über ein gemeinsames Anliegen verständigen, um gemeinsam in eine Richtung zu rudern. Sein Vorbild ist – unabhängig vom christlichen Glauben – Jesus, weil dessen Botschaft Liebe war, mit der er die Menschen berührte und bewegte.
Den Göttinger Hirnforscher habe ich am Samstag bei der “Mann-sein”-Konferenz in Berlin gehört. Er sagt: Wissen anhäufen bringt nichts, weil es den Wissenden nicht verändert. In jedem PC kann man mehr Wissen speichern, das dauerhaft bleibt. Für den Menschen geht es um Erfahrung, weil wir nicht für Reproduktion geschaffen sind, sondern für das Gestalten. Wir sollten nicht erforschen, was uns krank, sondern was uns gesund macht.
Kohärenz bedeutet, bei sich zu sein. Das Gehirn strebt ständig danach, möglichst wenig Energie (Glucose) zu verbrauchen, weil selbst in Ruhe 20 Prozent verbraucht werden. Deshalb will das Gehirn keine Probleme erkennen und lösen. Es gibt aber keinen Zustand, in dem alles passt, weshalb das Gehirn immer arbeitet. Wenn man das Gefühl hat, gestalten zu können, ist man in Kohärenz. Man freut sich auf Veränderung, Neuausrichtung und kann deshalb schenken, inspirieren und befähigen statt zu belehren.
Kohärenz unterliegt drei Voraussetzungen: Man muss die Welt verstehen. Man muss sie gestalten können und das Gestaltete muss Sinn machen. Das Problem: Jede Gemeinschaft dient einem Sachzweck, aber (noch) keinem Selbstzweck, der die Entfaltung von Potentialen ermöglicht. Deshalb sind wir eine Gemeinschaft der Bedürftigen, weil wir uns gegenseitig nur benutzen, bewerten etc., wodurch das Subjekt zum Objekt wird.
Diese Situation verletzt das Grundbedürfnis nach Selbstverwirklichung und Freiheit. Unterdrückung erzeugt dieselben Schmerzen wie körperliche. Eine schlechte Schulnote erzeugt zwei Ergebnisse: Ich halte den Lehrer für blöd oder ich halte mich für zu blöd für Mathe. Beides beendet den Dialog zwischen Lehrer und Schüler – und die Veränderung.
Interessant an Politik und Gesellschaft sei, so Hüther, dass die Bedürftigsten nach oben kommen und wir sie wählen. Der Grund liegt darin, dass wir ein System kreieren, in dem wir nur die Erwartungen der anderen (Eltern) erfüllen. Und das, obwohl kein Wesen so verschieden ist vom andern wie der Mensch, was es noch schwieriger macht, die Erwartungen des anderen zu diagnostizieren. Um dieses Dilemma zu lösen, heißt unsere Ordnungsstruktur Hierarchie, die alles weltweit als Erfolgsmodell durchzieht.
Ein weiterer Aspekt: Männer sind konstitutionell schwächer, weil sie nur ein X-Chromosom haben, auf dem zudem deutlich mehr Informationen gelagert sind als auf dem Y-Chromosom. So kann die Frau immer auf das zweite ausweichen, wenn das erste nicht reicht. Weil sie aber körperlich unterlegen ist (kurzfristig), ist der Mann dennoch dominant. Männer wiederum brauchen aber Halt, z.B. Geld, Macht, Sex, Waffen, Panzer, Armeen, um ihre Identität zu finden und zu wahren.
Frauen ziehe es zu mächtigen Männern, weshalb Gesellschaften immer hierarchischer werden, wobei sich Menschen gegenseitig zu Objekten machen. Globalisierung und Digitalisierung haben die Gesellschaft aber so komplex gemacht, dass Hierarchie als Prinzip nicht mehr dient. Vorstufe dieser Veränderung sind flache Hierarchien und die Ziele sind hierarchiefreie Wertschätzung, Sinn und Liebe.
Im kollabierenden Bildungssystem sieht man dies am deutlichsten, weil die Kinder in den hierarchischen Strukturen nicht mehr funktionieren. Sie brauchen Wertschätzung, um zu lernen. Und Arbeitnehmer werden zu Bestimmern und damit von Objekten wieder zu Subjekten. Bedürftige dagegen werden nur noch als Experten geduldet. Alle anderen werden zu Liebenden.
In der teils ungläubigen Diskussion kontert Hüther: „Hört auf, an Instanzen zu appellieren und seid selbst die Veränderung.“ Anders werde Veränderung nicht kommen. Sie beginne damit, dass jeder einzelne selbst eine innere Haltung einnimmt, sich nicht als Objekt anderer, sondern als Subjekt zu verstehen.
Sein Tipp aber: „Sammelt erst vier Leute um euch, die euch stärken.“ Denn der Gegenwind sei als Einzelner deutlicher spürbar. Als Gemeinschaft widerstehe man besser. Und fast schon melancholisch beendete der Bestsellerautor seinen Vortrag vor 350 Männern: „Ich fühle mich oft einsam.“
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