Vom Inneren Kind hört man viel. Zumindest in Büchern, Artikeln und Seminaren. Aber in uns selbst, hören wir da was? Wir möchten Krieger, Könige, Magier und Liebhaber sein, natürlich. Wir wollen Stärke zeigen, Feuer entfachen, Selbstbewusstsein ausstrahlen. Die Erinnerung an den schwachen, kleinen Jungen von damals passt nicht so recht zu diesem Weg. Und doch liegt gerade hier der Ursprung von so vielem. Der kleine Junge ist das Fundament, auf dem unsere gesamte Entwicklung als Mann steht. Das Medizinrad beschreibt den Weg des Lebens wie folgt: Der Mensch wird durch das Tor des Südens ins Leben geboren. Unschuldig und mit unendlichem Vertrauen macht er sich auf den Weg in Richtung Norden, zum weisen Häuptling. Ein Blick in die Welt der Erwachsenen zeigt jedoch: Kindliches Verhalten begegnet uns tagtäglich, in den unterschiedlichsten Situationen. Nicht selten fühlt man sich unter vermeintlich Erwachsenen wie im Sandkasten. Selbst bei denen, die sich bereits auf den Weg der Bewusstwerdung ihrer eigenen Muster gemacht haben, bricht immer wieder der kleine Junge durch und präsentiert sich in seiner Schattenseite.
Die Schatten der kindlichen Archetypen
Robert Moore und Douglas Gillette beschreiben die Schattenseiten der unreifen Männlichkeit in den vier verschiedenen Archetypen mit ihren jeweils aktiven und passiven Ausprägungen: Der Hochstuhl-Tyrann und schwächlichen Prinz, Klassentyrann und Feigling, altkluge Schelm und Trottel, das Muttersöhnchen und der Träumer. Diese Bilder stehen für Machttrieb, Überlegenheit und Überheblichkeit, anmaßenden Stolz, Infantilität, Verantwortungslosigkeit, Perfektionismus, Opferverhalten, Minderwertigkeitsgefühl, Tarnung und Täuschung, Hinters-Licht-Führen, Manipulation, Einschüchterung, Neid, Unbedarftheit, Naivität, Trägheit, Teilnahmslosigkeit, Vereinsamung, Abgeschiedenheit, Gewalt, übertriebener Heroismus, Unverwundbarkeitsglaube, Widerstandslosigkeit, Protestlosigkeit. Die intellektuelle Analyse der Archetypen und den daraus resultierenden Handlungen bzw. Verhaltensweisen ist spannend und aufschlussreich, jedoch für die rasche praktische Anwendung im Alltag meist zu abstrakt.
Die Bedürfnisse des Inneren Kindes
Als Kleinkinder mussten wir darauf vertrauen, dass unsere Mutter und unser Vater unsere Bedürfnisse erkennen und diese befriedigen. Als Junge lag unsere Aufmerksamkeit dabei insbesondere auf der Mutter. Die wichtigsten Bedürfnisse waren für uns damals Sicherheit, Anerkennung, Liebe, Hunger, Durst, Wärme, Berührungen, entspannte Umgebung, Schutz, Ruhe und sicherer Schlaf. Es besteht also eine unglaublich große Abhängigkeit von der Mutter. In einer perfekten Entwicklung vom Kind zum Erwachsenen hätten wir gelernt, diese Abhängigkeiten langsam zu lösen und Schritt für Schritt für uns selbst zu sorgen. Aufgrund vielfältiger Ursachen ist es aber häufig so, dass wir die Bedürfnisse stattdessen unbewusst auf andere übertragen – ganz besonders deutlich wird das in der (Liebes-)Partnerschaft. Es ist unsere Aufgabe, uns selbst immer wieder zu reflektieren, unsere Bedürfnisse zu erkennen und auf dieser Basis weise zu handeln, um unsere Bedürfnisse für uns selbst zu befriedigen. Um diese Aufgabe jedoch wahrhaftig und fundamental zu bewerkstelligen, müssen wir tiefer gehen.
Mit dem Lauf des Lebens werden wir zwar physisch älter, erfahrener, weiser – doch unser inneres Neverland, unser kleiner Peter Pan, bleibt nach wie vor existent. Ein Kind, das niemals erwachsen wird. Genau wie die anderen Archetypen, die wir in uns tragen, repräsentiert der kleine Junge so etwas wie Idealversion des perfekten Kindes. Zu seinen Charaktereigenschaften zählen Schöpferkraft und Kreativität, Neugierde, Unschuld, Wissbegierde, Konzentration, Selbstvertrauen, Forschergeist, Abenteuerlust, Pioniergeist, Staunen, Leidenschaftlichkeit, Verbundenheit, Warmherzigkeit, Zärtlichkeit, Spiritualität und Liebe. Wie wir wir als Kleinkinder, so hat auch dieser innere kleine Junge Bedürfnisse, und es obliegt unserer eigenen Verantwortung, dass wir uns um ihn kümmern. Seine Bedürfnisse spiegeln diejenigen unserer Kindheit wider. Der kleine Junge möchte gesehen werden, er möchte gehört werden, er möchte wahrgenommen werden, und er möchte, dass wir diese Bedürfnisse gerne erfüllen. Er möchte seine positiven Charaktereigenschaften ausleben können, neugierig sein, spielen, Abenteuer erleben, Verbundenheit spüren, Liebe erleben, ungezwungen sein. Doch wie oft darf sich unser kleiner Junge wirklich ausleben? Wie viel Zeit geben wir ihm – und damit letztlich natürlich uns selbst – um zu spielen, ohne Sinn oder Ziel, einfach nur um des Spielens willen?
Zeit zum Spielen
Wir haben verlernt zu spielen. Wir haben gelernt, Regeln zu befolgen, Termine einzuhalten, „erwachsen zu sein“. Bildlich gesprochen, haben wir dem kleinen Jungen einen strengen Erzieher an die Seite gestellt, der ihn ruhig hält. Doch davon verschwindet er nicht, ganz im Gegenteil. Genau wie unterdrückte Aggression sich irgendwann ihren Weg bricht und dann mit voller Wucht in Gewalt ausartet, so verhält es sich auch mit der Energie des kleinen Jungen. Gleich einem Kind im Supermarkt, dass sich schreiend auf dem Boden wälzt, bis es bekommt was es möchte, bedient sich auch das innere Kind dieser Taktik: In dem Moment, in dem der strenge Erzieher abgelenkt oder schwach ist, bricht das Kind in Gestalt seiner Schattenseite durch und übernimmt die Führung. Je nach Ausprägung kann das entsprechend dem aktiven oder passiven Pol sichtbar werden: Überheblichkeit oder Opferverhalten, Gewalt oder Trägheit, Perfektionismus oder Teilnahmslosigkeit, und so weiter (siehe oben). Die Probleme, Frustrationen und Verhaltensmuster, die die Midlife-Crisis ausmachen, fördern anschaulich zu Tage, wie sich nicht gelebte innere Bedürfnisse an Wendepunkten im Verlauf des Lebens darstellen können.
Vom Umgang mit gewalttätigem Verhalten wissen wir, dass es elementar ist, die aggressive Energie nicht in ihrem Fluss zu unterdrücken, sondern diese in zielgerichtete Aktion zu transformieren. Gleich verhält es sich mit der spielerischen Energie. Das bedeutet natürlich nicht, dass wir uns ab jetzt täglich in den Sandkasten setzen und Sandkuchen backen sollen. Es geht um das wahrhaftige und freie Ausleben der Dinge, die uns einfach unglaublich Spaß machen – und ohne damit ein bestimmtes Ziel zu verfolgen. Sportliche Aktivität (ohne Bestzeitanspruch), Reisen (ohne Gedanken an die Verwertbarkeit auf Instagram), Musik machen und hören (ohne der nächste Hendrix oder Kritiker werden zu wollen), Tanzen (ohne Wettbewerbe), kreativ sein (ohne Verkaufsgedanken). Lerne diesen wahnsinnig großartigen kleinen Jungen in Dir kennen und finde heraus was ihm – und damit Dir – wirklich Freude macht. Du magst ihn seit langem nicht gesprochen haben, aber keine Angst, er ist nicht nachtragend, sondern freut sich umso mehr, wenn Du mit ihm in Kontakt gehst. Setze Dir einen fixen Tag pro Woche, an dem Du Dir Zeit nimmst nur für Dich, um voll und ganz in Deine „Spielwelt“ eintauchen zu können. Beim Wandern in den Bergen, mit Kopfhörer und Gitarre zuhause auf dem Sofa, ein Cappuccino auf einem Städtetrip.
Weise Grenzen setzen
Wir alle wissen, ein Kind braucht weise Grenzen, in denen es sich entwickeln darf. Diese Grenzen so gestalten, dass der Spieltrieb gestillt werden kann und dennoch die Sicherheit gewährleistet ist, dafür ist der weise, vorausschauende Häuptling bzw. König in Dir zuständig. Es steht außer Frage, dass niemals Mitmenschen und Lebewesen Schaden von Deinem Tun erfahren dürfen. Es geht immer und ausschließlich um das Erfahren der positiven Seite Deines Inneren Kindes! Wenn Dein Kind im Eifer des Spiels einen Städtetrip nach Sydney unternehmen möchte, liegt es in des Königs Verantwortung zu überprüfen, ob der zeitliche und finanzielle Rahmen dafür vorhanden ist und ob Du damit niemand anderem schadest. Auch bei vorausschauender Sicht trifft der kleine Junge immer wieder auf Gefahren. Dein Krieger ist verantwortlich, stets ein Auge auf ihn zu werfen und ihn mit all seiner kämpferischen Kraft zu beschützen. Es ist jedoch ebenso seine Aufgabe, den kleinen Jungen nicht über die weise gesetzten Grenzen laufen zu lassen. Mit diesem Wissen im Hintergrund: Schalt Dein Handy aus, denke nicht an morgen. lass Dich von Deinem Peter Pan führen und fühle Dich an diesem Tag grenzenlos und frei voller Freude, in der besten Version Deines Kindes.
Meditation zum Inneren Kind
Um mit Deinem Inneren Kind in Kontakt zu treten, eignet sich die Meditation hervorragend. Setz Dich an einen ruhigen Ort. Wenn die Möglichkeit besteht am besten draußen in der Natur, an einem See oder Fluss.
Schließe Deine Augen, Atme tief ein. Halte den Atem für einige Sekunden, spanne alle Muskeln Deines Körpers an, und dann lass los, atme laut aus. Spüre die Stille.
Stelle Dir vor, Du stehst auf einer Lichtung im Wald. Von dieser Lichtung führen vier Pfade in die verschiedenen Himmelsrichtungen. Folge dem Weg, der nach Süden führt. Du hörst in der Ferne das sanfte Rauschen eines Flusses. Der Weg kommt Dir vertraut vor, es steigt eine wohliges Gefühl in Dir auf, während Du weiter voran schreitest. Langsam lichtet sich der Wald. Der Fluss wird deutlicher hörbar. Zwischen Wald und Fluss liegt eine breite Sandbank. Als Deine Füße den Sand berühren, siehst Du, dass ein kleiner Junge dort am Wasser steht. Du gehst auf ihn zu. Und während Du Dich ihm näherst, siehst Du, dass dieser Junge Du selbst bist. Möchtest Du diesen kleinen Jungen in den Arm nehmen? Was möchtest Du ihm sagen? Welche Weisheit, die Du in Deinem Leben gelernt hast, möchtest Du ihm anvertrauen? Und nun, höre dem kleinen Jungen zu.
- Was sagt er Dir?
- Was möchte er von Dir?
- Was möchte der kleine Junge spielen?
- Welche anderen Bedürfnisse hat er?
Wenn er fertig gesprochen hat, blickt Euch einander an. Genieß diesen Moment. Und verabschiede Dich. Gehe zurück zum Wald, den Weg entlang zurück zur Lichtung und sei Dir bewusst darüber, dass Du diesen kleinen Jungen jederzeit wieder besuchen gehen kannst.
Atme tief ein und aus. Öffne langsam die Augen.
Denk an die Begegnung, an die Bedürfnisse, die Dir Dein kleiner Junge mitgeteilt hat.
Wie kannst Du ihm diese Bedürfnisse erfüllen?
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