Dieser Artikel gibt einen kurzen Einblick in die Themen bzw. Inhalte bezogen auf die sieben Aspekte der männlichen Heldenreise. Auf Methoden, Rituale und Initiationen kann wegen der Kürze des Artikels nicht näher eingegangen werden.
Der Begriff Heldenreise stammt aus der Mythologie und benennt ein kollektives Seelenbild für eine dem Menschen innewohnende Entwicklungsbewegung: Er verspürt einen Impuls, einen Ruf, folgt ihm und macht sich auf den Weg durch alle Höhen und Tiefen seines Lebens/seiner Seele, um zum Wesentlichen zu gelangen. Heute sind die Männer in unserem Kulturkreis oft weit über die Lebensmitte hinaus, bevor sie sich für den inneren Weg des Mannseins öffnen.
Identität und Visionen
Die 7 Archetypen der männlichen Seele und die dazugehörigen Essenz-Aspekte
Heiler Verletzbarkeit / Mitgefühl
Vater Unterstützung / Stärke
Wilder Mann Freiheit/Autonomie
Krieger Entscheidungskraft / Wille
Liebhaber Sexualität / Liebe
Mystiker Einheit / Weisheit
König Wert / Führerschaft/Dienst
1: DER HEILER – Verletzbarkeit/Mitgefühl
Ein Mann, der sich auf die Heldenreise begibt, begegnet in der ersten Initiation der Wirklichkeit seiner Verletzlichkeit und dem Mysterium der Wunde. Jeder von uns ist verletzt, jeder Mann und jede Frau, alles ist verletzt, es gibt keine Ausnahmen. Es ist wie ein Ur-Prinzip, das in allem erscheint, und das unser Leben und unser Verhalten in umfassender Weise bestimmt.
Meistens versuchen wir, unsere eigenen Verletzungen zu verbergen und uns zu schützen, ohne uns dessen bewusst zu sein. Persönlichkeit und Charakter, die so genannten Ich-Strukturen, haben wir früh entwickelt, um Verletzungen zu überformen und in dieser Welt zurechtzukommen. Auf der Reise zur Wunde begegnet der Mann auch dem inneren Kind mit seinen Ängsten und Nöten. Die Verletzung, die den inneren Kern berührt, geht allerdings über die Kindheitsverletzungen hinaus und bringt uns in Kontakt mit dem überpersönlichen, universellen Prinzip der Wunde. Was überhaupt bedeuten eigentlich Wunde bzw. Verletzung?
Ein Mann, der die Heiler-Initiation durchlaufen hat, kennt seinen Schmerz und seine Verletzungen gut. Er hat sie tief erforscht und hat Mitgefühl mit sich selbst und allem Lebendigen entwickelt. Er hat seine Verletzungen auf eine neue Ebene gehoben und zu sich genommen. Sie sind nun Teil seiner männlichen Würde, und er braucht sie fortan weder zu verbergen noch sich auf sie zu berufen und besondere Rücksicht von anderen einzufordern.
2. VATER – Unterstützung/Stärke
Zur Heldenreise eines Mannes gehört auch die Reise zu seinem Vater. Männer sind oft in ihrer Ausrichtung stark auf das Weibliche bezogen. Das hat seine Geschichte, meist schon im Familiensystem. Die Mutter war präsent, vielleicht auch überpräsent, und der Vater war körperlich und/oder seelisch abwesend. Dieses hemmt in heftiger Weise besonders den Sohn auf seiner Suche nach männlicher Identität.
Zum Weg des Mannseins gehört, dass der Sohn sich aufmacht zu seinem leiblichen Vater, wie auch immer das aussieht, wie auch immer der Vater ist oder war. Es ist auch unabhängig davon, ob der Vater noch lebt oder nicht, oder ob der Mann seinen Vater kennt oder nicht.
Robert Bly spricht vom doppelten Strom des inneren Vaters, dem der Sohn begegnet. Dazu gehören stärkende, stützende und nährende Anteile sowie die „Axtseite“ des Vaters, seine dunkle, gefährliche und auch zerstörerische Seite. Diese Auseinandersetzung mit der ganzen Wirklichkeit des Vaters ist oft ein sehr tief gehender und bewegender Prozess. Die Versöhnung mit seinem Vater und seinen männlichen Ahnen unterstützt einen Mann, zu seiner männlichen Identität und Stärke zu finden.
3. WILDER MANN – Freiheit/Autonomie
Im dritten Schritt geht es um die Qualitäten des Archetypen, den wir „wilden Mann” nennen. Er steht für die reife Form männlicher Unabhängigkeit, Stärke, Erdverbundenheit, Wildheit und für eine gesunde Risikobereitschaft und Unangepasstheit. Ein Mann muss sich klar werden, was Freiheit für ihn wirklich heißt. Ein Mann, der nicht allein sein kann, kann auch nicht frei sein. Ein Mann, der nicht frei ist, kann sich auch nicht trennen. Ein Mann, der sich nicht trennen kann, kann sich nicht verbinden, er kann keine verbindliche und reife Beziehung eingehen.
Es ist nicht leicht, Freiheit ganz zu verstehen und zu leben, denn das Wesen von Freiheit reicht weit über unsere Konzepte davon hinaus.
Wichtige Fragen tauchen hier auf: Wie bin ich abhängig, wie bin ich süchtig? Männer stellen sich an diesem Punkt ihrer Reise ohne jede Verschleierung ihren unreifen, unfreien Abhängigkeiten und Süchten, erforschen sie und unterscheiden sie von frei gewählten Bindungen und Verbindlichkeiten. Bedeutsam ist dabei die Erforschung der Abhängigkeit eines Mannes vom Weiblichen, sowohl von der Mutter als auch von der Partnerin und weiblichen Bezugspersonen.
4. KRIEGER – Entscheidungskraft/Wille
Im vierten Schritt integriert ein Mann den häufig als schwierig erlebten Krieger-Aspekt: männliche Konfliktbereitschaft, Zentriertheit, Wille und Entschlossenheit. Oft wird das innere Bild des Kriegerarchetypen mit dem zerstörerischen und verletzenden Schatten-Aspekt in Verbindung gebracht. Die Themen Gewalt und Zerstörungskraft brauchen Raum, um erforscht und geklärt zu werden.
Beim Krieger-Aspekt untersucht ein Mann das Wesen seines Willens und seiner Entscheidungskraft. Schon kleine Kinder nutzen die gerichtete Willenskraft, die wir Aggression nennen können, wenn sie laufen lernen wollen. Sie fallen unentwegt, hadern nicht darüber und versuchen es immer wieder neu, bis sie laufen können. Hier wird das natürliche Zusammenspiel von Aggression und Hingabe deutlich. Auch als erwachsene Männer treffen wir auf unserer Reise dieses Prinzip an.
Wenn ein Mann seinen Weg nur mit einer klaren, gerichteten Kraft unbeirrt geht, wird er erkennen, dass diese Kraft allein nicht ausreicht. Ohne die Hingabe an den Lebensfluss, an den „größeren Willen”, würde er verhärten und sich im Lebenskampf aufreiben.
Wie also bin ich ein Kämpfer, wie bin ich aggressiv? Ein Mann prüft hier, wo er überzieht bzw. wo er sich zu sehr zurückhält. Er arbeitet im Kreis der Männer daran, seine Balance zwischen angemessener Aggressivität und Hingabe zu finden.
Für einen Mann ist es bedeutsam, Grenzen setzen und Entscheidungen treffen zu können. Ist der innere Krieger gut ausgebildet, fällt es ihm leichter, seinen Raum zu halten und seinen Weg zu gehen, ohne andere dabei unangemessen zu verletzen. „Höchstes Ziel des Kriegers ist, sowohl auf das Schwert in der Hand als auch auf das im Herzen zu verzichten“.
5. LIEBENDER /LIEBHABER – Liebe/Leidenschaft
Ein Mann auf der Heldenreise stellt sich der Wirklichkeit von Liebe und ergründet deren Wesen und Bedeutung. Er gewinnt eine vertiefte Wahrnehmung für das, was Liebe und lieben in seinem Leben heißt. Er erkennt, dass Liebe in ihren zahlreichen Facetten aus der gleichen Quelle gespeist wird. Der Begriff Liebhaber repräsentiert im Sprachgebrauch mehr den leidenschaftlichen Aspekt der Liebe. Wir benutzen hier die Begriffe synonym.
Der Liebhaber will sich verbinden mit dem, was er liebt, wofür sein Feuer brennt. Was auch immer ihn begeistert, er findet eine Möglichkeit es zu genießen. Dafür ist er auch bereit, kreative und unkonventionelle Wege zu gehen.
„Wie bin ich ein sexueller Mann?“ ist eine Frage nach dem Wesen der eigenen Sexualität. Viele Vorstellungen, Konzepte und Konventionen verdunkeln die Wirklichkeit unserer sexuellen Identität und sexuellen Essenz. Im Kreis von Männern öffnet sich ein sicherer Raum, um diesem Thema zu begegnen. Über die Verletzlichkeit der männlichen Sexualität wird selten gesprochen, obwohl Männer hier oft sehr verwundet sind. Im Feld der männlichen Initiation kann gerade auch dies gesehen und bearbeitet werden.
Der verzerrte Aspekt des Liebenden ist der „Süchtige“. Es ist der süchtige Liebhaber im Mann, der von einer Befriedigung zur nächsten strebt. Ein Mann auf der Heldenreise wird hier herausgefordert, sein süchtiges Verhalten zu erforschen und auszunüchtern, um zu seiner wesentlichen Leidenschaft vorzudringen.
6. MYSTIKER – Einheit/Weisheit
Der Aspekt des Mystikers führt uns in den Bereich von intuitiven Wissen, Weisheit, Spiritualität und Urvertrauen. Der Mystiker ist der Archetyp der Essenz und verkörpert unmittelbar die uralte und zentrale Frage nach unserem Mensch-Sein, nach unserem Wesen hinter der äußeren Form. Wer bin ich? Was bin ich jenseits meiner Vorstellungen, Meinungen, Absichten, Weltanschauung und Selbstbilder und auch jenseits meines Denkens und meiner Geschichte? Wer bin ich, wenn ich einfach nur bin? Was berühre ich in diesem Moment? Dies sind keine philosophischen Fragen, die sich an unseren Verstand richten. Es geht um Sein, um Bewusstsein selbst.
In diesem Zusammenhang begegnet ein Mann der tieferen Ebene seines Seins und stellt sich der Wirklichkeit seines Lebens und seiner Sterblichkeit. Er betritt den Raum der „Schwelle“ und verlässt den engen Blickwinkel seiner bisherigen Anschauungen und Strukturen. Er schaut hinter die Polarität der Gegensätze von gut und schlecht, richtig und falsch, Schuld und Unschuld, Leben und Sterben, Verstehen und Nichtverstehen. Was heißt es für einen Mann, es zu wagen, auf die vertraute Art seines Denkens, Wissens und Handelns zu verzichten und den Raum des Nichtwissens zu betreten?
Jenseits von richtig und falsch liegt ein Land
von strahlender Bewusstheit dort treffen wir uns
(Rumi)
7. KÖNIG – Wert/Führerschaft/Dienst
Der Archetyp des Königs repräsentiert das innere Bild des reifen, integrierten Mannes.
Hier treffen wir auf drei Themenbereiche: Wert und Würde, Autorität und Führerschaft, Verantwortung und Dienst. Diese drei Aspekte gehen der Reihe nach auseinander hervor. Das zentrale Thema ist Wert.
Das Wert-Sein ist eine Qualität unserer Seele. Es ist ein Essenzprinzip und liegt jenseits dessen, was wir durch unser Tun erreichen können und auch jenseits dessen, wie unser Schicksal ist. Wir sind bereits Wert, von Anfang an, ganz selbstverständlich. Wir können dem nichts hinzufügen, wie sehr wir uns auch anstrengen mögen. Wir können auch nichts davon verlieren. Es geht darum, sich dieser inneren Wirklichkeit bewusst zu werden.
Die Führerschaft beim König erwächst aus dem Wert-Sein. Der Kontakt zum inneren Wert macht einen Mann frei, Führerschaft für sein eigenes Leben zu übernehmen. Er ist in der Lage, sein Leben selbstbestimmt zu leben, anstatt sich von Umständen, Dingen und fremden Ansprüchen leben zu lassen.
Führerschaft und Dienst/Verantwortung liegen eng beieinander. Der Kontakt zum König- Archetyp erwirkt bei einem Mann die Fähigkeit, sein Ureigenes in den Dienst des Ganzen zu stellen. Dieser Dienst erwächst aus dem Ureigenen und aus der Wahrheit unserer Seele, nicht aus irgendeiner Vorstellung, die wir über das Dienen haben.
DAS WESEN DER REISE
Die Heldenreise endet nicht, unser Entwicklungsweg geht ein Leben lang weiter. Es enden nur Abschnitte oder Phasen der Reise. Es gibt komprimierte initiatische Heldenreisen, in denen ein Mann für eine gewisse Zeit durch die genannten Aspekte reist und entsprechende Initiationen erfährt. Hierzu braucht ein Mann ein entsprechendes Umfeld (Setting), wo kompetente initiierte Männer, die das Wesen dieses Weges durchdrungen haben, mitwirken und ihm während dieser intensiven Zeit als Mentoren, Therapeuten oder erfahrene Begleiter zur Seite stehen.
Für komprimierte Heldenreisen gibt es viele Beispiele von archaischen und traditionellen Formen aus verschiedenen Kulturen. In unserem Kulturkreis ist es hilfreich, wenn in der Reise des Mannes initiatische, psychologische und spirituelle Ebenen zusammenfinden, und dies jenseits jeder ideologischen Fixierung.
Literaturhinweise:
Ein Buch über das Männerprojekt „Die Heldenreise des Mannes“ ist 2015 im Springer Wissenschaftsverlag erschienen: „Selbsterfahrung Mann“, Autor Andreas Schick.
Weitere Literatur zum Thema:
Robert Bly: „Eisenhans“
S. Biddulph: „Männer auf der Suche“
R. Rohr: „Endlich Mann werden“
Lutz Müller: „Der Held – Jeder ist dazu geboren“
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